Margo, die dreizehnte Fee

 

Fantasyroman

 


Unerwarteter Besuch

 

Es war an einem kühlen Septemberabend im Jahr 1863, als eine elegante Kutsche durch die dunklen Straßen Berlins fuhr. Vor einem herrschaftlichen Haus brachte der Kutscher die Pferde zum Stehen und ein gutgekleideter junger Herr stieg aus. Interessiert musterte er die Eingangstür aus dunklem Eichenholz. In das Holz waren seltsame Figuren eingeschnitzt. Einhörner, Drachen, Schlösser, Könige und Königinnen sowie windschiefe Häuschen und bucklige Frauen mit Hakennasen und Katzen auf der Schulter zierten die Tür. Professor Jacob Ludwig Carl Grimm stand auf dem silberfarbenem Namensschild, welches daneben an der Hauswand angebracht war. Unentschlossen verweilte der späte Besucher vor dem Haus, bevor er sich ein Herz fasste und den Messingknopf dreimal fest gegen die Tür schlug. Es dauerte eine geraume Weile, und beinahe wäre der junge Mann wieder umgekehrt, da öffnete sich langsam die Tür. Ein zerbrechlich wirkender weißhaariger Greis stand vor ihm. Sein faltiges Gesicht war eingefallen und die Hände zitterten unkontrolliert. Aber seine Augen waren erstaunlich wach, wie die eines 30-jährigen.

„Womit kann ich Ihnen zu so später Stunde helfen?“, fragte er mit angenehm klarer dunkler Stimme.

„Professor Grimm?“

„Ja, der bin ich.“

„Bitte verzeihen Sie meinen Überfall, aber die Angelegenheit ist für mich von außerordentlicher Wichtigkeit.“

„Nun, wenn das so ist, dann treten Sie doch bitte ein, Herr …?“

„Entschuldigung, Herr Professor, wie unhöflich von mir. Mein Name ist Alexander von Dornrös.”

„Angenehm. Kommen Sie, Herr von Dornrös, kommen Sie.“ Langsam schlurfte der Greis die hohe Eingangshalle entlang, bis in ein seltsam anmutendes Empfangszimmer. Das flackernde Kaminfeuer und einige Kerzen erhellten den Raum und ließen die Bilder an der Wand beinahe lebendig erscheinen. Eines der Gemälde zeigte ein romantisches Schloss, welches von Rosensträuchern überwuchert wurde. Der Professor ließ sich in einem bequemen Ohrensessel nahe des Kamins nieder und beobachtete neugierig, wie sein Besucher beinahe magisch von dem Bild angezogen wurde.

„Dornröschen ist eines meiner Lieblingsmärchen.“, sagte er, „Es kursieren so viele verschiedene Versionen dieser Geschichte, dass man beim besten Willen nicht sagen kann, ob etwas davon wahr ist und falls ja, was. Mein Bruder Wilhelm vertrat die Meinung, es wäre gleich, welche Version wir aufschreiben, es wäre sowieso nichts dran an diesem Märchen. Aber ich bin da anderer Meinung.“

„Sie haben Recht, Professor. Dornröschen hat es tatsächlich gegeben. Allerdings trug sich alles völlig anders zu, als Sie und Ihr Bruder es veröffentlicht haben. Deswegen bin ich hier.“ „Ich dachte mir bereits, dass Sie mich deswegen aufsuchen.“, sichtlich amüsiert registrierte er den verblüfften Gesichtsausdruck seines Gegenübers, „Nun schauen Sie doch nicht so entsetzt, Eure Hoheit. Man muss kein Zauberer sein um das zu erraten.“

„Woher wissen Sie …?“

„Ihr Name und das Adelsprädikat ließen mich von Anfang an vermuten, dass Sie ein Nachfahre Dornröschens sind. Ich wundere mich nur, dass Sie erst so spät die Wahrheit ans Licht bringen wollen. Ihnen ist hoffentlich bewusst, dass ich nicht mehr lange leben werde.“ „Meine Mutter erzählte mir unsere Familiengeschichte erst im letzten Jahr, kurz vor ihrem Tod. Sie selbst hatte 1838 versucht, Sie in Göttingen aufzusuchen, aber Sie und die anderen Göttinger Sieben waren verschwunden.“ Professor Grimm entfuhr ein bitteres Lachen. „König Ernst August von Hannover sei Dank. Er hat die Verfassung von 1833 gebrochen und als wir Professoren öffentlich dagegen protestierten, wurden wir des Landes verwiesen. Wir hatten Glück, dass er uns nicht in den Kerker werfen ließ.“

„Ja, davon habe ich gehört. Als meine Mutter erfuhr, wo Sie zu finden sind, war sie mit mir schwanger. Und von der schweren Geburt konnte Sie sich nie wieder richtig erholen. Sie war zu kränklich, um die beschwerliche Reise auf sich zu nehmen.“

„Warum hat sie mir oder meinem Bruder nicht geschrieben?“

„Vermutlich befürchtete sie, dass Sie sich vor lauter Briefen kaum retten können, so dass ihre Nachricht untergehen würde.“

„Nun, ich bin sehr gespannt auf Ihre Geschichte, Eure Hoheit. Aber nun nehmen Sie doch bitte erst einmal Platz.“

„Danke Herr Professor. Den Adelstitel können Sie sich jedoch sparen. Nach dem Tod ihrer Eltern haben Rosalinde, wie Dornröschen wirklich hieß, und ihr Mann das Königreich an ihren Freund, Georg Ludwig von Hannover übergeben um ein bürgerliches Leben zu führen. Dazu müssen Sie wissen, dass mein Ururururgroßvater nicht dem Adelsstand angehörte.“ „Hat Dornröschen …, entschuldigung, Rosalinde denn nicht den Prinzen geheiratet, der sie erlöste?“

„Dieser Prinz hat niemals existiert. Aber am besten erzähle ich Ihnen alles ganz von vorne.“ Während die Nacht über Berlin hereinbrach, machten es sich die beiden Männer vor dem Kamin bequem und der alte Märchensammler Jacob Grimm lauschte der Erzählung seines jungen Besuchers.

 

 

Die Eroberer

 

Gegen Ende des 17. Jahrhunderts lebte in der ehemaligen Kaiserstadt Goslar ein Königspaar, das wünschte sich nichts sehnlicher als ein Kind. Und als sie die Hoffnung schon beinahe aufgegeben hatten, da bemerkte die Königin voller Freude, dass sie endlich guter Hoffnung war. Einige Monate später gebar sie eine gesunde Tochter, der sie den Namen Rosalinde gab. In seiner Begeisterung entsandte der König seine Boten in die entlegensten Winkel seines Reiches und zu allen befreundeten Adelshäusern, um jedem die frohe Kunde mitzuteilen.

Es trug sich jedoch zu, dass gerade zu jener Zeit feindliche Truppen in den nördlichen Teil des Landes einfielen. Sie verbrannten die Häuser und trieben die Bewohner wie Vieh auf die Straßen und Plätze. Grausam wüteten die Krieger unter der Bevölkerung. Wer nicht das Glück hatte, gleich getötet zu werden, der wurde zur Fronarbeit in die Bergwerke verschleppt, wo er unter schrecklichsten Bedingungen bis zu seinem Tod ausgebeutet wurde. Die Soldaten schändeten alle überlebenden Frauen, derer sie habhaft werden konten und die männlichen Kinder schaffte man in die Kriegsschulen des Nachbarlandes, wo Fürst Odin sie zu willigen Kampfmaschinen erziehen ließ. Als der Bote mit der Freudennachricht eintraf, fand er nur noch verbrannte Dörfer vor. Ein evangelischer Pfarrer, welcher das Massaker zusammen mit seiner Familie überlebt hatte, berichtete ihm von den Greueltaten. „Diese Bestien haben die Menschen regelrecht abgeschlachtet.“, erzählte Pfarrer Martin, als sie um ein kümmerliches Lagerfeuer herumsaßen. „Verzeiht, dass wir Euch nichts anbieten können, aber wir leben seit zwei Tagen nur von Beeren, die wir im Wald finden.“ Mitleidig betrachtete der Bote die Pfarrersfrau, die verzweifelt versuchte, ihre Blöße mit ihrer zerfetzten Kleidung zu verdecken. Ihr Blick war irr und sie brabbelte wirres Zeug vor sich hin.

„Sie haben sie geschändet. Vier Männer sind abwechselnd über sie hergefallen, bis meine Frau sich nicht mehr rührte. Dann haben diese Ungeheuer das Interesse an ihr verloren und sie einfach liegen lassen. Ich habe sie und unser Kind im Wald versteckt, bis alles vorbei war.“ Ein etwa dreijähriger Knabe kauerte verängstigt neben seiner Mutter. Gierig starrte er auf den Laib Brot, welchen der Bote aus seiner Tasche herausnahm. Der Mann brach es in drei Teile und gab es den hungrigen Leuten, die wie wilde Tiere darüber herfielen.

„Hier, mehr kann ich Euch leider nicht geben. Ich muss schleunigst aufbrechen, um dem König Bericht zu erstatten. Das Beste wird sein, wenn Ihr versucht, Euch bis nach Goslar durchzuschlagen. Die Stadt ist durch starke Befestigungsanlagen geschützt, so dass eine Eroberung nicht allzu leicht möglich ist. Viel Glück!“ Mit diesen Worten schwang er sich auf sein Pferd und ritt im Galopp davon.

Plötzlich schwirrte ein Pfeil durch die Luft und durchschlug das Wams des Boten. Das Pferd scheute, so dass sein Reiter in hohem Bogen auf den Waldboden geschleudert wurde. Ungläubiges Staunen breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er die stetig größer werdende Blutlache auf seinem Gewand sah. Ein bedrohlich aussehender Krieger kam aus dem Gebüsch hervorgeprescht. Knapp vor dem Schwerverletzten brachte er sein Streitross zum Stehen. Ihm folgten einige furchteinflößende Gesellen, denen er befahl, sich um den Pfarrer und seine Familie zu kümmern.

„Bitte verzeiht mir diesen Überfall.“, wandte er sich bösartig lächelnd dem Boten zu, „Aber Ihr werdet sicher verstehen, dass ich Eure Absicht, den König zu warnen nicht zulassen kann. Ihr würdet mir schließlich den ganzen Spaß verderben, ihn zu überrumpeln. Und das wollt Ihr doch nicht, oder?“ Mit letzter Kraft tastete der am Boden liegende Mann nach seinem Messer und schleuderte es dem Angreifer entgegen. Dieser jedoch wich der Waffe hämisch lachend aus. „Dachtet Ihr ernsthaft, Ihr könntet mich töten? Ihr Narr! Niemand besiegt Fürst Odin!“, mit diesen Worten ergriff er seine mächtige Streitaxt und ließ sie auf den Boten niedersausen.

„Was passiert mit den Gefangenen, Vater?“, fragte ein etwa achtjähriger Rotschopf, welcher sich bis jetzt im Gebüsch verborgen gehalten hatte. Verächtlich sah Fürst Odin auf die armseligen Kreaturen herab.

„Ich schenke sie Dir, mein Sohn. Befiehl, was mit ihnen geschehen soll.“ Es war das erste Mal, dass Loki über das Leben anderer entscheiden konnte. Ein unbändiger Stolz stieg in ihm hoch, als ihm bewusst wurde, welche Macht er in diesem Moment besaß. Während er dieses Gefühl auskostete, ließ er seinen Blick hochmütig über die drei Menschen wandern, die in seiner Gewalt waren. Allerdings wurde dieses Gefühl gleich wieder Zunichte gemacht, als er feststellte, dass die Frau keinerlei Notiz von ihm nahm, sondern nur wirr daherredete und der Mann im Gebet versunken war. Selbst der kleine Junge schien keine Angst vor ihm zu haben. Hasserfüllt erwiderte er Lokis Blick

„Nun mach schon, wir müssen weiter!“, rief sein Vater ihm zu.

In diesem Augenblick überschlugen sich die Ereignisse. Mit einem irren Schrei stürzte die Frau auf Lokis Pferd zu. Das Tier scheute, warf seinen verblüfften Reiter ab und rannte im gestreckten Galopp davon. Bevor die Frau seinen Sohn erreichen konnte, spaltete Odin ihren Kopf mit seiner Axt, so dass sie tot zu Boden fiel. Der Pfarrer, der seiner Frau zu Hilfe eilen wollte, wurde von Pfeilen durchbohrt.

„Lauf!“, rief er seinem Sohn zu, „Lauf!“. Dann wurde er von einem der Krieger endgültig zum Schweigen gebracht. Das Kind, dem während des Zwischenfalls niemand Beachtung geschenkt hatte, schleuderte mit aller Kraft einen Stein auf Loki, bevor es flink wie ein Wiesel im Unterholz verschwand.

„Lasst ihn!“, hielt Fürst Odin seine Krieger zurück, welche den Jungen verfolgen wollten. „Dieses Kind ist wirklich bemerkenswert. Aber auch das wird ihm nicht helfen. Auf sich allein gestellt, wird es im Wald bald verhungern. Ich wäre froh, wenn mein Sohn auch nur annähernd soviel Schneid wie dieses Kind hätte. Hör auf zu jammern wie ein altes Waschweib!“, wandte er sich barsch an Loki, der sich heulend die klaffende Wunde an seiner Stirn hielt, die der Stein verursacht hatte. Die Krieger halfen ihm auf, wobei sie sich über ihn lustig machten.

„Oh, Ihr habt Euch wacker geschlagen, Eure Hoheit.“

„In der Tat. Und was für ein phantastischer Reiter Ihr doch seid.“

„Nur eine wehrlose Frau und ein Knirps konnten Euch auf die Knie zwingen. Gegen diese Übermacht kommt selbst der beste Krieger nicht an.“

„Schluss jetzt!“, brüllte Odin wutschnaubend. „Wagt es nie wieder, euch über meinen Sohn lustig zu machen, oder ihr werdet es bereuen. Ist das klar?“ Wie geprügelte Hunde wichen die Männer zurück. „Und du“, wandte er sich an Loki, „wage es ja nicht, mich je wieder so zu enttäuschen.“ Seine Augen schienen Blitze zu sprühen.

„Odin!“, krächzte da eine Frauenstimme. Es war Xara, die alte Zauberin des Fürsten, die während des Handgemenges den Leichnam des Boten untersucht hatte. „Hier ist ein Schreiben, welches dich interessieren wird.“

„Worum geht es?“

„König Alfons und seine Frau haben eine gesunde kleine Tochter bekommen.“

„Na herzlichen Glückwunsch. Und was geht mich das an?“

„Dein Sohn wird dieses Mädchen heiraten.“

„Was???“

„Denk doch nach, du Bastard!“, keifte die alte Frau ungeduldig, „Du kannst noch so viele Länder erobern, aber mehr als ein Fürst wirst du niemals sein. Dein Sohn jedoch kann die kleine Prinzessin ehelichen.“ Ein verschlagenes Grinsen breitete sich auf Odins Gesicht aus. „Und nach dem tragischen frühen Tod ihrer Eltern König werden.“, vervollständigte er ihre Gedanken. „Xara, alte Schrulle, du bist genial. Loki komm her!“, herrschte er seinen Sohn an, der gerade dabei war, sich in den Büschen zu übergeben. „Wir werden sofort nach Goslar aufbrechen, um dich mit deiner Braut bekannt zu machen.“

 

 

Feindliche Truppen in Goslar!

 

„Spinnenbein und Schlangengift! Warum bin ich nicht zu der Taufe eingeladen worden? Bin ich etwa aussätzig oder ziert eine dicke Warze mein Gesicht, dass ich nicht gut genug für diese Feier bin?“

„Margo, jetzt hör endlich mit diesem unwürdigen Gezeter auf! Bei dem letzten königlichen Empfang bist du einfach zu weit gegangen. Dem Grafen von Toulouse vor versammeltem Hofstaat Juckpulver in das Hemd zu schütten. Da musst du dich nicht wundern, wenn der König dich nicht sehen will.“

„Der Graf war selber schuld. Er hätte den Jungen nicht schlagen dürfen, nur weil ihm ein Teller heruntergefallen ist.“

„Direkt auf des Grafen Hose.“, fügte ihre Schwester spitz hinzu.

„Na und wenn schon.“

„Was erwartest du denn, Margo? Dieser ungeschickte Tölpel hat den Grafen durch seinen Fauxpax in aller Öffentlichkeit brüskiert. Um sein Gesicht zu wahren musste er den Jungen bestrafen. Es gibt nun einmal Standesregeln, die eingehalten werden müssen.“

„Merkst du eigentlich, wie spießig du bist, Eleonore?“

„Das hat nichts mit Spießigkeit zu tun, sondern lediglich mit Etikette.“

„Das ist doch dasselbe.“

„Falsch. Du solltest langsam erwachsen werden und dich auf deine Herkunft besinnen, anstatt immer Partei für die Dienerschaft und den Pöbel zu ergreifen.“

„Du vergisst, dass meine Mutter, im Gegensatz zu deiner, eine einfache Zigeunerin war.“ „Wie könnte ich das jemals vergessen? Du kleidest dich schließlich genau so unmöglich wie sie. Und deine Manieren lassen leider auch einiges zu wünschen übrig. Denk doch auch einmal an unseren Vater. Er würde sich schämen, so wie du dich aufführst.“

„Das glaube ich nicht. Er hat immer gelacht, wenn ich in euren Augen etwas angestellt habe. Und nachher hat er mich in die Arme genommen und gesagt: 'Kind, du bist genau richtig, so wie du bist. Lass dir bloß nichts anderes einreden.' Jawohl, das hat er gesagt.“ Eleonore konnte sich eines Lächelns nicht erwehren, als sie das empörte Gesicht ihrer jüngeren Schwester betrachtete. Zweifellos, trotz der mangelnden Sorgfalt, was ihre Aufmachung betraf, war Margo eine Schönheit, die niemand übersehen konnte. Die langen schwarzen Haare standen in reizvollem Kontrast zu ihren, vor Lebendigkeit sprühenden, grünen Katzenaugen. Überhaupt besaß sie die Anmut einer Wildkatze, jedoch auch ihre Unbezähmbarkeit. Und eben diese war es, die Eleonore Sorgen bereitete. Margo interessierte sich nicht im geringsten für Vorschriften, Anstandsregeln oder Befehle. Sie handelte immer nur nach ihrem Gewissen, wodurch sie sich schon oft den Unmut des Adels zugezogen hatte. Bisher war es der jungen Frau immer wieder gelungen, das Königspaar durch ihre unbeschwerte Fröhlichkeit und ihren natürlichen Charme zu besänftigen. Aber dieses Mal war sie anscheinend wirklich zu weit gegangen. König Alfons weigerte sich hartnäckig, sie zu empfangen. Nicht einmal zur Taufe seiner kleinen Tochter hatte er sie eingeladen – und das, obwohl Margo eine der dreizehn weisen Frauen des Königreichs war, deren Anwesenheit ansonsten immer zu feierlichen Anlässen erwünscht war.

„Na schön, in gewisser Weise hast du ja Recht.“, lenkte Margo jetzt ein. „Es war nicht ganz fair von mir, den Grafen erst zu becircen und ihm dann hinterhältig beim Tanz das Juckpulver in den Kragen zu schütten. Das hätte ich sofort tun sollen, nachdem er den Dienstjungen geschlagen hat. Aber du musst doch zugeben, dass sich beim Hoftanz noch nie jemand so ausgelassen gebärdet hat, wie der junge Graf.“, fügte sie verschmitzt grinsend hinzu. Lachend wich sie einer Holzschüssel aus, welche Eleonore ihr entgegenschleuderte.

„Du bist und bleibst unmöglich!“, ereiferte sich die ältere.

„Stimmt. Aber trotzdem kannst du mir nie lange böse sein, Schwesterherz.“

„Leider. Dabei hättest du manchmal eine Tracht Prügel verdient, du Scheusal.“ Eleonores Bemühung, wütend auszusehen, scheiterte kläglich, als Margo sie entwaffnend anlächelte. „Du hast ja Recht. Und von jetzt an werde ich mich auch ernsthaft bemühen, eine anständige Fee zu sein. Großes Zigeunerehrenwort.“

„Dein Zigeunerehrenwort kenne ich. Glaube nur nicht, dass ich auf deine Versprechen hereinfalle, irgendein Haken ist immer dabei. Bei welchem Blödsinn soll ich dir denn jetzt schon wieder helfen?“

„Ich möchte so gerne zur Taufe! Die kleine Prinzessin kann meinen guten Wunsch für sie vielleicht gut gebrauchen.“

„Mach dich nicht lächerlich. Du weißt genau so gut wie ich, dass unsere Zauberkräfte nicht ausreichen, um wirklich etwas zu bewegen. Unser Kapital sind Kräuterkunde, eine gute Bildung und der Aberglaube des Volkes. Ansonsten sind wir doch nur Schauspieler. Wir können dem Mädchen relativ gefahrlos Schönheit oder Klugheit wünschen – bei der Mutter würde es an ein Wunder grenzen, wenn die Kleine hässlich würde. Und klüger als die meisten Leute wird sie sicher auch, weil das Königspaar ihr eine gute Bildung finanzieren wird. Aber ansonsten ist es doch eine reine Glückssache, ob unsere guten Wünsche in Erfüllung gehen.“

„Leider. Aber wenn wir uns ernsthaft bemühen, aus Vaters alten Büchern zu lernen, dann können wir vielleicht auch so gut zaubern lernen, wie er es konnte.” Unwirsch unterbrach Eleonore ihre jüngere Schwester.

„Wir haben es doch versucht! Und was ist dabei herumgekommen? Bei mir rein gar nichts und du kannst ein paar kleinere Gegenstände zum Schweben bringen, und mehr nicht. Sogar die älteren Feen haben jahrelang versucht, aus seinen Büchern schlau zu werden und sind jämmerlich gescheitert. Meinst du etwa, dass ausgerechnet wir zwei jüngsten mehr erreichen werden als die anderen elf?“ Margo schnaufte.

„Warum denn nicht? Sieglinde, Kunigunde und der Rest dieser illustren Gesellschaft machen auf mich jedenfalls keinen sehr intelligenten Eindruck. Ich verstehe ehrlich gesagt überhaupt nicht, warum du ihnen die Bücher ausgeliehen hast.“

„Margo! Lass das bloß niemanden hören, sonst kommst du in Teufels Küche!“

„Wovor hast du eigentlich solche Anst? Nur weil sie in der Rangordnung höher stehen als du, können sie dir geistig trotzdem noch lange nicht das Wasser reichen. Sieh endlich ein, dass du die Klügste von uns bist.“

„Schluss jetzt! Ich will nichts mehr davon hören. Und glaube nur nicht, dass ich dich bei der Taufe ins Schloss hinein schmuggele.“

„Ist ja schon gut. Ich gehe jetzt mal lieber, damit du dich wieder abreagieren kannst. Bis später.“ Verdutzt sah Eleonore ihr nach, als Margo unvermittelt zur Tür hinauseilte. Was hatte das denn wieder zu bedeuten? Hoffentlich hatte ihre Halbschwester nicht wieder einen ihrer wahnwitzigen Einfälle, die sie regelmäßig in Schwierigkeiten brachten.

 

. . . . . . .

 

Margo durchquerte unterdessen die festlich geschmückten Straßen der Königsstadt. Das bunte Treiben, welches sie normalerweise in vollen Zügen genoss, interessierte sie heute nicht im Geringsten. Zielstrebig eilte die junge Zigeunerin der Stadtmauer entgegen, um durch das Vititor in den nahegelegenen Wald zu gelangen. Dort wollte sie neue Kräuter zur Herstellung von Arzneien sammeln. Als am Stadttor plötzlich ein Tumult entstand, schrak sie zusammen. Aus einem mit Weinfässern beladenen Wagen sprangen Männer und erdolchten die überraschten Wachen. Unmittelbar danach preschten schwer bewaffnete Reiter durch das Tor und schlugen auf alles ein, was sich bewegte. Schreiende Frauen und Kinder flüchteten vor den Eindringlingen. Einige Männer, die sich gegenüber den Angreifern beherzt zur Wehr setzten, wurden gnadenlos niedergemacht.

„Aufhören!“, dröhnte da eine befehlsgewohnte Stimme durch das heillose Chaos. Sofort ließen die Barbaren von ihren Opfern ab und sammelten sich um einen bedrohlich aussehenden Krieger. „Wir wollen die zukünftigen Schwiegereltern meines Sohnes doch nicht durch unnötiges Blutvergießen vor den Kopf stoßen, nicht wahr? Also benehmt euch einigermaßen anständig. Tötet jeden, der sich uns in den Weg stellt, aber alle anderen werden vorerst am Leben gelassen. Ist das klar! Ihr beide.“, wandte er sich an zwei Krieger, „Ihr reitet zur Nachhut und holt die Männer her. Wir brauchen vier Wachen an jedem Stadttor. Und seht nach ob irgendwo versteckte Durchbrüche in der Stadtmauer sind, die gesichert werden müssen. Loki, du kommst mit mir. Wir wollen dich doch schließlich deinen Schwiegereltern vorstellen.“ Margo sah, wie ein blasser rothaariger Junge sein Pferd neben dem Anführer zum Stehen brachte. Auf seiner Stirn bemerkte sie eine frische Wunde, von der sicher eine Narbe übrig bleiben würde. „Xara, du kommst auch mit. Vielleicht brauche ich deine Hilfe bei diesen angeblichen Feen. Falls sie tatsächlich über Hexenkraft verfügen, musst du sie in Schach halten.

„Ja ja, Odin.“, krächzte die alte Zauberin. „Aber um die Feen brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Als ich die Stadt ausspionierte, waren elf von ihnen in dem sogenannten Haus der weisen Frauen. Und ich kann dir versichern, dass keine von ihnen auch nur über einen Hauch von Magie verfügt – das hätte ich sonst gespürt.“

„Was ist mit den anderen beiden?“ Nachdenklich wiegte die Greisin ihren Kopf hin und her. „Ich weiß nicht recht. Irgendjemand in dieser Gegend hat geringe Zauberkraft. Nicht viel, aber sie könnte stärker werden mit der Zeit. Auf jeden Fall werde ich die Augen offen halten.“ Margo lief ein Schauer über den Rücken. Sie spürte Xaras Blick wie einen Dolch durch die Mauer hindurch, hinter der sie sich verborgen hielt.

„Los jetzt!“, rief Odin. „Lasst uns weiter zum Schloss reiten!“

Unwillig ließ Xara ihren Raubvogelblick ein letztes Mal über die Häuserwände schweifen. Sie fühlte etwas, das ihr nicht gefiel. Aber darum würde sie sich ein anderes Mal kümmern müssen. Als die Eindringlinge fortgeritten waren, rannte Margo los. Sie hastete durch enge Gassen bis zu einer windschiefen kleinen Hütte, die anscheinend nur durch die Nachbarhäuser aufrecht gehalten wurde. Die Zigeunerin stieß die quietschende Tür auf, schlüpfte in das Innere der Hütte, schlug die Tür hinter sich zu und lehnte sich dann erschöpft dagegen. Ihr Herz schlug zum Zerspringen und in ihrem Kopf dröhnte es. Margo zitterte am ganzen Körper, ihre Beine versagten ihr den Dienst und sie ließ sich unkontrolliert schluchzend zu Boden sinken. Xara! Diesen Namen würde sie ihr Leben lang nicht vergessen. Es war der Name jener Hexe, welche Margos Mutter vor ihren Augen getötet hatte. Genau wie damals fühlte sie einen unbändigen Hass in sich aufsteigen. Damals war sie erst zehn Jahre alt gewesen und hatte nichts ausrichten können, um ihrer Mutter zu helfen oder um sie zu rächen. Aber jetzt sah die Sache anders aus. Aus dem hilflosen Kind war eine junge Frau geworden, die durchaus in der Lage war, sich zu behaupten. Nach dem Tod ihrer Mutter war Margos Vater, der berühmte Magier Rasmus von Radun, aufgebrochen, um Xara zu vernichten. Seine jüngste Tochter hatte er in der Obhut ihrer bereits erwachsenen Halbschwester Eleonore zurückgelassen. Monatelang warteten die beiden Schwestern auf seine Rückkehr. Aber statt dessen erreichte sie die Nachricht, dass Xara ihn im Zauberduell vernichtend geschlagen hatte. Seitdem gab es kein Lebenszeichen von ihm und alle, außer Margo, fanden sich damit ab, dass er tot sein müsste. Als Andenken an ihn war ihnen lediglich dieses kleine Haus in der Glockengießer Straße geblieben, von dem nur die beiden Schwestern wussten. Hier hatte sich der Magier aufgehalten, wenn er in Ruhe seinen Studien nachgehen wollte oder wenn er sich in Trance versetzte, um in die Zukunft zu sehen. Das Innere war karg eingerichtet. In der Mitte befand sich ein Stehpult, welches von zwei Kerzenhaltern eingerahmt war. Ein altersschwaches Regal, vollgestopft mit verstaubten Büchern, lehnte an einer der Wände und in der gegenüberliegenden Wand war ein Kamin eingebaut, vor dem ein uralter Schaukelstuhl stand, der aussah, als wenn er jeden Augenblick auseinanderfallen würde.