Textprobe 2

Aus

"Tragödien in Dur -

Mit Ironie geht vieles leichter"


Der folgende Text basiert auf der Nachkriegskindheit meines damals fünfjährigen Vaters.

Das Grundgerüst dieser Geschichten basiert auf Tatsachen, allerdings habe ich bei der Ausgestaltung meine künstlerische Freiheit stark ausgenutzt.

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Kindheit in Münster

Erstes Kapitel

 

Meine kriminelle Laufbahn begann sehr früh.

Man schrieb das Jahr 1945, und Münster war von Engländern und Amerikanern besetzt.

 

Mein großer Bruder Bernd und ich lieferten uns gerade eine erbitterte Straßenschlacht mit ein paar Jungs aus der Nachbarschaft. Die Steinbomben prasselten nur so, als ein Konvoi der Besetzer die Warendorfer Straße heraufkam.

Wir jedoch waren so eifrig in unseren Kleinkrieg vertieft, dass uns die Fahrzeuge erst auffielen als unsere Basaltsteine gegen die Jeeps krachten.

Unsere Spielkameraden waren pfiffig genug, rechtzeitig in Deckung zu gehen und ergriffen die Flucht.

„Heinz, Bernd, abhauen!“

Bernd und ich waren leider nicht so geistesgegenwärtig, und so starrten wir kurze Zeit später in die Mündungen mehrerer Maschinenpistolen, die auf uns gerichtet waren.

Zwei uniformierte Männer schrien uns an, aber wir verstanden kein einziges Wort.

 

Für die Soldaten stand schnell fest, dass es sich bei uns um verstockte Nazigören handeln müsste, die nach ihrem missglückten Attentat auf den Konvoi zum Reden gebracht werden sollten, um an die Anstifter heranzukommen.

So landete ich mit gerade fünf Jahren zum ersten Mal im Knast.

 

Wir hatten Glück im Unglück, dass schnell ein Dolmetscher zur Hand war, der von unserer Unschuld überzeugt war und dieses auch den Alliierten klar machen konnte. Am nächsten Tag durften wir wieder nach Hause, wo uns von jetzt an eine gewisse Hochachtung der

anderen Kinder gewiss war.

Zuhause dagegen gab es erst einmal eine gehörige Tracht Prügel und Hausarrest.

 

Dem Hausarrest hatten wir es zu verdanken, dass wir hörten wie Doktor Weber Vater den Tod unserer Mutter voraussagte.

Ich liebte meine Mama über alles und schwor mir, alles zu tun, damit es ihr gut ging. Vielleicht würde sie dann ja doch nicht sterben.

Also begann ich in dieser entbehrungsreichen Zeit, wo fast alle an Unterernährung litten, dem dicken Bauern Kröger täglich ein paar Eier zu stehlen.

Mama liebte Eier, und ich hoffte, dass sie dadurch wieder auf die Beine kommen und nach mehr als einem Jahr Krankheit endlich gesund würde. Damals wusste ich noch nicht, dass Krebs nicht durch Nahrung geheilt werden kann.

Die Eier versteckte ich immer so, dass Vater oder jemand anderes aus der Familie sie finden musste.

Ich war entsetzt zu sehen, wie Mama all die mühsam geklauten Schätze zuerst an uns Kinder verteilte, und nur wenn wir fünf jeder eins hatten, dachte sie auch an sich.

Dadurch wurde ich natürlich gezwungen, jeden Tag sechs Stück zu stehlen, was nicht unentdeckt blieb.

Ich wurde erwischt. Vater musste für zwei Tage in Arrest, weil man annahm, er hätte mich zum Diebstahl angestiftet. Meine Großeltern schickten mich zum Beichten und Mama starb trotzdem noch im selben Jahr.

 

„Komm her Freundchen!“, meinte Vater nur als er aus dem Knast zurückkehrte.

„Dich werde ich lehren, kein Eigentum von fremden Leuten zu stehlen.“

Er zog den Gürtel aus seiner Hose, legte mich übers Knie und verdrosch mir den Hintern bis mir die Tränen nur so die Wangen hinab liefen. Aber ich gab keinen Mucks von mir, trotz der Schmerzen und des Gefühls, völlig ungerecht behandelt zu werden.

Erstens war Bauer Kröger gar kein Fremder für mich und zweitens wollte ich doch nur helfen.

Später schlich ich mich zu Mama ins Elternschlafzimmer, wo ich meinen Schmerz und die Trauer einfach nicht mehr zurückhalten konnte. Mama streichelte mir sanft über die widerspenstigen blonden Locken.

„Heinzelmann, mein lieber kleiner Heinzelmann.“, murmelte sie. „Auch wenn die Gesetze hier unten auf der Erde verbieten zu stehlen um anderen zu helfen, der liebe Gott da oben weiß, dass Du es nur gut gemeint hast. Und er hat dich ganz doll lieb. Genauso wie ich.“

 

Die letzten Monate war Mama durch ihre Krankheit fast ständig ans Bett gefesselt.

Meine frühesten Erinnerungen zeigten sie mir als lebensfrohe, liebevolle Frau, die sich in jeder Situation ein Spiel für uns Kinder einfallen ließ.

Zwar mussten meine drei älteren Geschwister und ich schon sehr früh alle möglichen Arbeiten verrichten aber Mama verstand es, für uns jede Arbeit in ein Spiel zu verwandeln.

Beim Unkrautjäten erzählte sie uns spannende Geschichten aus der Bibel oder Märchen, worin ich eigentlich keinen Unterschied sah.

Und wenn wir weite Wege absolvieren mussten um Brennholz oder Eicheln für die Schweine zu sammeln, verwandelte sie den langweiligen Weg in ein Abenteuerland, wo wir von Stein zu Stein über nicht vorhandene reißende Flüsse sprangen und über Schuttberge das

Matterhorn erklommen.

Manchmal, wenn unsere müden Füße wehtaten und immer langsamer wurden, erklärte sie, dass ein Stamm wilder Hottentotten hinter uns her wäre oder ein gefährliches Wolfsrudel. Und während wir laut kreischend wieder alle Kräfte mobilisierten und losrannten, spielte sie

unsere Verfolger.

Mit Mama war das Leben meistens ein aufregendes Spiel.

 

Wenn wir nachts vor Hunger nicht schlafen konnten, gab sie uns ein Stück Holz, auf dem wir herumkauten, nahm uns in ihre Arme und sang uns Lieder vor, bis wir einschliefen. Oft kaute sie auf ihrer mageren Essensration nur einmal kurz herum – um ein wenig Geschmack zu bekommen – und gab ihr Essen dann uns Kindern.

 

Seit ich denken kann, waren wir immer kurz vor dem Verhungern. Aber wir hatten das große Glück es nicht zu wissen.

Mama gab uns immer das Gefühl, alles wäre richtig, so wie es ist, und sie erzählte uns von Menschen, denen es noch viel schlechter ging als uns.

‚Das Mädchen mit den Schwefelhölzern’ von Hans Christian Andersen war damals meine Lieblingsgeschichte, und wenn ich hungrig war, dachte ich daran, dass es mir doch viel besser ging als diesem armen Mädchen.

 

Dann wurde Mama krank.

Noch immer versuchte sie uns den Schutz einer Traumwelt aufrecht zu erhalten, was ihr aber nur sehr eingeschränkt gelang.

Bei der Arbeit konnte sie uns nicht mehr unterstützen. Die Arbeit blieb zwar die gleiche aber die Zauberwelt, welche uns früher vor der harten Realität Schutz bot, stürzte immer mehr in sich zusammen.

Grete, meine älteste Schwester, versuchte im Alltag Mamas Rolle zu übernehmen. Sie spann die alten Geschichten weiter, versuchte uns aufzumuntern, scheiterte dabei jedoch kläglich.

Nur dann, wenn wir uns zu unserer Mutter in das große Ehebett legen durften, war sie für kurze Zeit wieder da - die Geborgenheit, welche nur Mama uns geben konnte.

Dann plötzlich stürzte unsere Welt völlig ein.

 

Abends hatte ich mich noch an ihren ausgemergelten Körper gekuschelt, der für mich der Inbegriff von Wärme und Sicherheit war.

Ich spürte ihren Herzschlag und lauschte, wie sie eine leise Melodie summte.

Wir teilten uns ihre trockene Brotscheibe und als ich darauf hin jammerte, weil ich noch immer hungrig war, gab sie mir auch noch das letzte Stück, welches sie schon im Mund hatte.

„Mama, wie ist es, wenn man tot ist?“, wollte ich plötzlich wissen, „Ist das schlimm?“

„Ach du kleines Dummerchen, natürlich nicht. Wenn du tot bist, kommst du zum lieben Gott in den Himmel. Da ist es schön warm, du hast immer genug zu essen und niemand ist böse zu dir. Du bist in einem wunderschönen Garten, die Bäume blühen das ganze Jahr

über. Prächtige Apfel- und Kirschbäume in voller Blüte, stell dir das mal vor! Überall dürfen die Kinder herumklettern und spielen. Und mitten durch diesen herrlichen Garten fließt ein munterer Bach mit kristallklarem Wasser. Du musst keine Angst vorm Tod haben. Keine

Schmerzen, keine Sorgen, kein Hunger mehr. Kannst du dir das vorstellen, Heinzelmann?“

Nein, das konnte ich nicht. Ich konnte mich nur noch an Hunger erinnern. Wie es war, satt zu sein, kannte ich nicht mehr.

„Mama, wenn du stirbst, darf ich dann mitkommen?“

„Nein mein Liebling. Du wirst hier unten noch gebraucht. Wie sollte Vater denn ohne dich zurechtkommen? Du bist schließlich unser kleiner Malocher. Der liebe Gott wird dich holen, wenn er es für richtig hält. Und dann werde ich am Gartentor auf dich warten.“

Siedendheiß fielen mir all meine Schandtaten ein. Ich war doch schon zweimal wegen eines Verbrechen belangt worden. Vater hatte mich deswegen gezüchtigt und der Pfarrer hatte mich als üblen Frevler und Sünder beschimpft.

„Aber was ist, wenn ich gar nicht im Himmel lande, sondern in der Hölle?“, brach es aus mir hervor.

„Ach mein kleiner Heinzelmann. Ich weiß ganz genau, dass du später in den Himmel kommst. Der Herrgott schaut in das Herz, nicht auf Blödsinn, den du mit guten Vorsätzen verzapfst. Glaubst du, der kleine Jesusjunge hätte nie Quatsch gemacht? Und trotzdem ist er im Himmel.“

„Ja, aber Jesus ist doch auch der Sohn vom Chef da oben.“

Jetzt lachte Mama.

Kein schwaches Lachen, wie in den letzten Monaten, sondern ihr schallendes fröhliches Gelächter von früher.

„Lass das bloß nicht den Pfarrer hören, du Strolch, sonst kriegst du was mit der Rute.“

„Stimmt es denn nicht?“

„Doch, es stimmt, aber vor allem ist Jesus wegen seinem reinen Herzen im Paradies. Und genau deshalb wirst auch du dahin kommen.“

An diesem Abend war ich glücklich, wie schon lange nicht mehr.

Am nächsten Morgen war meine Mama tot.